Artikel:
Aus einem Schreiberleben
Über Verleger, Lektoren und ihr
Gesamtkunstwerk
Der offene Brief des Autors Rainer Wochele an eine Lektorin,
der sein Buchmanuskript seit über einem Jahr zur Begutachtung
vorliegt, hat mich amüsiert. Das Verhältnis dieses Autors
zum Lektorats- und Verlagswesen scheint noch romantisch
verklärt zu sein, wahrscheinlich ist es geprägt worden vom Bild
des Lektors Perkins, der F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway,
Thomas Wolfe entdeckte und deren Werke jahrzehntelang
betreute. Dieser Lektor, dem Wolfe in "Von Zeit und Strom" die
Widmung setzte: "Maxwell Evarts Perkins, dem großen
Redakteur und dem tapferen, ehrenhaften Mann, der dem
Verfasser dieses Buches in Zeiten der bitteren Hoffnungslosigkeit
unentwegt beistand und es nicht zuließ, daß
dieser seinen Zweifeln unterlag, ist das Werk gewidmet ... Kriton,
mein lieber Freund Kriton, dies, glaube mir, dies ..." (jetzt aber
schnell mit Zitieren aufhören). Dieser Lektor Perkins, von dem
der alternde Hemingway in seinen Briefen schreibt: Der mit dem
komischen kleinen Hut da in New York, der sein Freund im
Verlag gewesen sei — und jetzt, da er tot, habe er dort keinen
Freund mehr.
Das ist doch alles romantische Verklärung, nicht mehr zeitgemäß.
Was ist denn heute ein Jahr warten? Lassen Sie sich
mal zum Spaß von mir berichten - von abhanden gekommenen
Jahrzehnten.
Als ich anfing mit Schreiben war auch ich, wie jeder Mensch
mal, jung und von Vorstellungsbildern über Hemingway,
Wolfe, Perkins verdorben. Zuerst sah ich mir die großen Autoren
an, dann beschloß ich, selbst Schreiber zu werden. Ich war
Student, hatte gerade wochenlang mit dem Kajak südfranzösische
Wildflüsse befahren - als ganz bewußtes Training, um
mir beim Schreiben einen "langen Atem" anzugewöhnen,
schrieb ich also als erstes ein Reisebuch über die kurz
zurückliegenden Erlebnisse beim Wasserwandern. (Da ich inzwischen
einen Computer habe, der mein Leben verwaltet, bekommen alle
meine Bücher Zahlen und alle meine Verlage/Lektoren Namen
aus dem Buchstabierungscode: das Reisebuch ist Buch eins).
Buch eins war 1957 fertig, und ich begann, es an Verlage zu
verschicken, bekam es aber ständig zurück, meistens nach
monatelangen Wartezeiten. Doch das beunruhigte mich nicht
weiter, da dies Buch eigentlich nur Schreibtraining gewesen
war, außerdem war ich inzwischen schon mit Buch zwei beschäftigt:
diesmal ein Kinderbuch, auch als ganz bewußtes
Training, um das Schreiben von Dialogen zu üben.
Buch zwei war 1959 fertig, ich tat's zu Buch eins in den
Hinundherversand und fing kurz darauf Buch drei an: etwas
Seriöses, die Geschichte einer Kindheit in den Kriegs- und
Nachkriegsjahren. Buch drei wurde im Herbst 1960 fertig - ich
packte es schon mal zu den anderen in den Versand, setzte
mich an die Zweitfassung dieses Buches.
1961 war ich immer noch beim Überarbeiten von Buch drei
und alle zusammen waren noch immer im Manuskriptversand.
In diesem Jahr starb mein Großvater - meine Mutter erbte einige
Tausend Mark, und ich bat sie um Geld für den Druck von
Buch eins an. Meine Mutter hatte als Mutter natürlich
Vorurteile: glaubte an mich und gab mir das Geld. Also ließ ich
Buch eins, das Reisebuch, in einer Auflage von 1500
Exemplaren drucken und vertrieb es selbst (um dem
Lebensablauf vorzugreifen: die Auflage dieses Buches wurde
ganz verkauft, an Wasserwanderer, Kanuvereine, die
werbemäßig gut zu erreichen waren).
Die Manuskripte der Bücher zwei und drei verfeinerte ich
laufend und verschickte sie unentwegt an Verlage. Etwa 1965
geriet ich mit Buch zwei an einen winzigen Verlag, von dem ich
vorher noch nichts gehört hatte: und der wollte es. Plötzlich
hatte ich einen richtigen Verleger und war richtiger Schriftsteller.
Ich war so happy, daß ich auf einen Verlagsvertrag verzichtete
und mich mit kurzer brieflicher Abmachung zufrieden gab
(als Tantieme 10 Prozent vom Ladenpreis jedes verkauften
Buches).
Buch zwei ging nicht besonders. Nach einiger Zeit bekam
ich vom Verleger Anton einen Brief, in dem er sich verwünschte,
dieses verdammte Buch je gedruckt zu haben. Das Schreiben
erschreckte mich ziemlich, so daß ich mich danach nie
wieder nach dem Absatz erkundigte - ich bekam auch nie
Abrechnungen oder nur einen Pfennig Geld an Tantiemen.
Zwischen mir und Verleger Anton war das Leichentuch des
Vergessens gespannt.
Die Jahre gingen dahin, ich war längst verheiratet, der Sohn
wuchs heran, das Manuskript von Buch drei war inzwischen
rund fünfzigmal von Verlagen abgelehnt worden. Und da
plötzlich, eines Tages 1968 geriet ich an einen Lektor, der ein
bekannter Lektor war und der tatsächlich sagte: das
Manuskript gefalle ihm, daraus ließe sich ein großartiges
Jugendbuch machen!
Zuerst war ich befremdet, da ich Buch drei nicht als
Jugendbuch gedacht hatte, aber Lektor Berta machte mir Mut,
gab mir Selbstvertrauen, und ich fing an, das Manuskript noch
einmal zu überarbeiten. Ich machte jedoch keine Kompromisse -
als das Buch fertig war, überprüfte ich, ob ich es an irgendwelchen
Stellen zur Erbauung der Jugend aufgeweicht hatte: nein,
nirgendwo, das waren harte Geschichten aus dem Krieg und
der Nachkriegszeit.
Ich hatte Buch drei für Lektor Berta ohne vertragliche Abmachungen
überarbeitet. Nun begab es sich, daß Lektor Berta
sich mit dem Verleger überwarf und den Verlag wechselte. Ich
sah meine Felle davonschwimmen, doch Lektor Berta bat mich,
das Manuskript zu seinem neuen Verlag mitnehmen zu dürfen:
gleich im Startprogramm solle es dort erscheinen.
Als es um die Vertragsabmachungen ging, schaltete ich als
von Verleger Anton gebranntes Kind, von dem ich nie einen
Pfennig gesehen, eine literarische Agentur ein, was wohl Lektor
Berta verschnupfte. Doch der Vertrag wurde geschlossen
und das Buch erschien - zwar nicht im Startprogramm des
neuen Verlages, aber im nächsten Jahr 1972 (zwölf Jahre
nachdem ich die Erstfassung vollendet hatte).
Buch drei bekam „hinreißende Kritiken" (spätere Aussage
von Lektor Berta), kam auf die Auswahlliste zum Deutschen
Jugendbuchpreis, wurde ins Dänische übersetzt. Plötzlich hatte
ich einen gewissen Ruf als Schriftsteller, an Hochschulen
wurden Seminararbeiten über das Buch geschrieben, Texte von
mir druckten Schulbücher nach. In einem didaktischen
Lehrbuch für Religionslehrer wurde eine Geschichte beispielhaft
abgedruckt: Ernest und ich zusammen, nur wir beide, zum
Thema Tod - ich zusammen mit Ernest Hemingway.
Ich fühlte meine Kraft und legte los. Zuerst Kinderbücher.
Der Sohn war klein, gerade im ersten Lesealter - war wirklich
schön, diese Bücher zu schreiben. Doch Lektor Berta wollte
nicht so recht bei Buch vier und fünf anbeißen - machte nichts,
meine Agentin besorgte mir einen weiteren Verlag mit Lektorin
Cäsar.
Lektorin Cäsar war von den Kinderbüchern angetan und
brachte im Laufe der Jahre drei raus, als drittes mein Erstlingskinderbuch,
Buch zwei, als überarbeitetes Remake. Doch der
Verkauf der Bücher war nicht besonders, von der renommierten
Kritik wurden wir bei den Kinderbüchern ziemlich totgeschwiegen -
damals war anderes 'in', es waren die hoffnungsvollen
Aufbruchsjahre der siebziger. (Später erzählte mir Lektorin
Cäsar, als sie alt und vom Verlag gefeuert und meine Bücher
längst wieder verramscht waren, ich sei der einzige Autor
von Qualität gewesen, den sie persönlich in ihrem
Lektorenleben entdeckt habe - noch mit einem anderen Autor
zusammen, dessen Namen ich aber vergessen habe.)
Buch vier und fünf waren nur die Vorbereitung gewesen: für
Buch sechs, auch ein Kinderbuch, ein ganz wildes. Ich hatte
inzwischen unendlich über Kinder und Kindheit nachgedacht
und wußte jetzt, wie Kinderbücher sein mußten. Das mit Buch
sechs, mit der Erstfassung, war 1970. Ich legte es Lektor Berta
vor, den ich für meinen 'eigentlichen' Lektor hielt (so. unter
Thomas Wolfe: „Kriton, mein lieber Freund Kriton..."), doch der
winkte ab - vielleicht später mal. Ich schickte das Manuskript
Lektorin Cäsar: an ihrem Antwortschreiben sah ich, daß sie vor
Entsetzen geradezu die Hände überm Kopf zusammengeschlagen hatte.
Ich hielt Buch sechs für das beste Kinderbuch, das ich geschrieben
hatte - irgendwas stimmte hier nicht. Um mich verständlicher
zu machen, baute ich einen Entlastungsangriff über
die Flanke auf und schrieb die theoretisch-essayistische
Abhandlung »Versuch über das „Erotische" - von der sinnlichen
Erfahrung der Welt durchs Kind«. Das war Buch sieben -
nein, Buch acht, als Buch sieben hatte ich zwischendurch noch
einen Erwachsenenroman über eine Frau geschrieben, den
Lektor Berta zwar auch ablehnte, aber doch so gut fand, daß er
mir riet, es damit mal bei den ganz großen, renommierten
Verlagen zu versuchen.
Ich wurde kein Buch mehr los und arbeitete unentwegt an
meinem »Versuch über das „Erotische" «.
Schließlich hatte ich
die Erleuchtung: Bei den Schwierigkeiten des Verstehens und
den Qualitäten von Kinderbüchern ging's eigentlich nur um
eins - Ums Denken! Plötzlich spaltete sich Buch acht auf, und
ich schrieb den Essay "Versuch einer Theorie der Rationalität".
Das war aber Jahre später, deshalb bekommt dieses Buch
schon die Nummer zwölf. Zwischendurch wurde ich nämlich
von meinem pädagogischen Job gefeuert, in dem ich laufend
mit Kindern zusammengekommen war, und beschloß deshalb,
noch schnell ein Buch zu schreiben, so lange ich Geld zum
Leben hatte. Großzügig wie Arbeitgeber sind, hatte ich bereits
ein halbes Jahr vorher erfahren, daß dann und dann das
Arbeitsverhältnis beendet sei - ich wollte ganz bewußt, dieses
letzte halbe Jahr zum Schreiben eines neuen Buches nützen,
und es sollte ein ganz freies, wildes Buch werden. Ich setzte
mich hin, sagte mir jeden Tag Thoreaus Essaytitel „Über die
Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" auf und schrieb eine
Geschichte, die von den Abenteuern der Liebe und den
Abenteuern des Denkens handelte, deren Held ein
Heranwachsender war.
Mit Buch neun war ich genau am letzten Tag meines geregelten
Werklebens fertig - echt wahr -, am nächsten Tag wurde
ich arbeitslos (übrigens meine Frau gleich mit: wir sind beide
am gleichen Tag arbeitslos geworden, obwohl wir bei verschiedenen
Arbeitgebern gearbeitet hatten - das erwähne ich
aber nur der Ordnung halber). Lektor Berta lehnte das Buch
neun ab. Dann starb meine Mutter - die, die an mich geglaubt
und mir das Geld zum Druck von Buch eins gegeben hatte -‚und
ich setzte mich hin und schrieb Buch zehn, Titel: „Kein Grund
zur Trauer oder eine Frau" (das Buch handelte nicht von meiner
Mutter, der Held war nur eine Frau).
Während ich Buch zehn schrieb wurde Buch neun von rund
zehn Verlagen abgelehnt. Und dann eines Tages schrieb
plötzlich meine Agentin: eben habe die Verlagsleitung von
Verlag Dora angerufen - sie habe ein großartiges Lektoratsgutachten
über Buch neun vorliegen, wolle es zwar noch selbst
lesen, möchte aber schon mal etwas über den Autor erfahren.
Das Buch wurde genommen, die Verlagsleitung selbst betreute
die Herausgabe. Es sollte zwar als Jugendroman platziert
werden, etwa fürs Alter ab 16 Jahren, was mir nicht gefiel -
doch ich hielt Sechzehnjährige für Erwachsene und verstand
die Schwierigkeiten der Verlage mit dem Pillenknick, der nicht
mehr genug junge Leser nachwachsen läßt.
Buch neun erschien, bekam gute Kritiken, wurde ins Niederländische
übersetzt. Eine Rundfunkanstalt schrieb, ob ich nicht
Lust hätte, mal ein Hörspiel zu schreiben - und ich schrieb zum
ersten Mal Hörspiele, zwei Stück in drei Wochen, und dann
noch ein drittes hinterher. Nachdem ich die Hörspiele
abgeliefert hatte, regte sich aber nicht mehr viel beim Sender
(ich meine, drei Jahre lang, bis endlich das eine gesendet
wurde).
Doch an anderen Fronten regte sich eine Menge: Lektor
Berta schrieb, die Auflage von Buch drei sei jetzt ausverkauft
und könne nicht nachgedruckt werden - sorry, tue ihm wirklich
leid. Etwa um die gleiche Zeit kam von Verlag Cäsar die
Nachricht, daß sie Buch vier verramschen müßten, leider, und
etwas später wurde mitgeteilt, daß Verlag Cäsar mit meinen
Kinderbüchern zwei und fünf an einen anderen Verlag verkauft
worden sei, der damit das Kennzeichen Emil bekommt. Verlag
Emil war einer der ganz großen Verlagskonzerne, und ich hegte
allerhand Hoffnungen: jetzt geht's richtig los!
Parallel zu diesen Hoffnungen wollte Verlag Dora ein weiteres
Buch neben Buch neun zur Herausgabe vorbereiten, und
ich sandte die Manuskripte ein, die schon fertig dalagen: das
wilde Kinderbuch sechs, den Roman zehn, die Essaybücher
acht und zwölf, das Reisebuch eins, das inzwischen im Selbstverlag
aufgekauft war. Und ich schrieb noch schnell Buch elf,
einen Roman, "Die Pädagogen" - angeregt durch meine
Erfahrungen als Pädagoge (Langlang war's her, denn eine neue
Arbeitsstelle hatte ich nicht wieder gefunden). Doch alle
vorgelegten Manuskripte wurden von der Verlagsleitung Dora
abgelehnt. Der Ton wurde seltsam frostig, und ich überlegte
verzweifelt, was da los sein könnte.
In der Zwischenzeit hatte sich die Gegenreformation formiert.
Zuerst war die Kritik mit Buch neun sehr aufgeschlossen
umgegangen, plötzlich wurde von Bayern her über ein großes
Blatt zum Angriff geblasen: Jugendroman und offener Sex -
nein! Berührte mich aber nicht besonders. Das Buch wurde ins
Niederländische übersetzt, in Arbeitsgruppen an großen
Hochschulen als Seminarthema abgehandelt: 'Salingers Fänger
im Roggen und Buch neun - als Gegenüberstellung'. Und Teile
aus Buch neun wurden mit Texten anderer Autoren zu einer
Anthologie von Liebesgeschichten zusammengestellt
(Klappentext: "gehören sicherlich zu den schönsten
Liebesgeschichten, die in den letzten Jahren entstanden sind").
Das mit dem Hochschulseminarthema erfuhr ich aber erst
Jahre später, als es Buch neun schon nicht mehr gab, und das
mit der Liebesgeschichtenanthologie geschah in diesem
Frühjahr 1986. Als Buch neun herauskam, war es 1979.
Um die Zeit damals lernte ich auf einer Tagung in Osterreich
den jungen Lektor Friedrich kennen, der gerade bei Verlag
Friedrich anfing. Er fragte, ob ich nicht ein Manuskript für ihn
hätte - ich schickte ihm Buch sechs, das wilde Kinderbuch, und
er war begeistert, nahm's sofort.
Ich war auch begeistert, sah immer noch Morgenrot. Eines
Tages brauchte ich wieder mal meine eigenen Kinderbücher,
zum Verschenken, und bestellte etliche Exemplare bei Verlag
Cäsar, der jetzt zum Verlagskonzern Emil gehört und von einer
speziellen Vereinigten Verlagsauslieferung bedient wurde. Kurz
darauf bekam ich vom Computer die Antwort: Titel nicht mehr
lieferbar! Ich schrieb an den Verlag, drang auf Klärung, bekam
aber nie eine Antwort - ich weiß nur, daß Verlag Cäsar/Emil
meine Bücher zwei und fünf verramscht hat, ohne mir je eine
Nachricht darüber zukommen zu lassen.
Nicht schön - aber Buch sechs war ja schon in Vorbereitung,
das wilde, beste Kinderbuch, das ich je geschrieben hatte (was
ich heute noch glaube). Die Druckfahnen waren schon
korrigiert, alles klar, und da plötzlich las ich in der Zeitung, daß
der Verlagskonzern, zu dem Verlag Friedrich gehörte, Konkurs
angemeldet hatte.
Macht nichts, sagte Lektor Friedrich, den ich daraufhin sofort
anrief. Ich habe schon einen neuen Verlag, Ihr Buch nehme
ich mit!
Also bekommt der Lektor Friedrich das neue Kennzeichen
Gustav. Zum Glück war im Verlagsvertrag eine Konkursklausel
gewesen, so daß wir das Manuskript sofort aus der Konkursmasse
des Verlags Friedrich freibekamen und das Buch
sechs dann im Verlag Gustav erscheinen konnte.
Doch ich greife vor - soweit war's noch nicht. Wieder mal
brauchte ich Exemplare meines Buches neun und bestellte
welche bei meinem Verlag Dora. Als Antwort kam: Nicht mehr
lieferbar. Ich fragte an, was da los sei, die Auflage könne doch
nicht ausverkauft sein. Langes Schweigen, dann Telefonat des
Vertriebschefs: man habe mir Falsches geschrieben - das Buch
sei lieferbar, sei nur schon mal zum Verramschen ausgesondert
worden.
Weniger als drei Jahre nach Erscheinen zum Verramschen
ausgesondert! Ich war bereits aus allen Druckschriften des
Verlages Dora getilgt, selbst aus den ellenlangen Backlists,
welche Bücher enthielten, die vor Jahrzehnten gedruckt worden
waren. Diesen Fall konnte ich nur tiefenanalytisch aufklären, so
daß er für mich halbwegs einsichtig wurde: ich hatte
Verlagsleitung Dora gleich zu Beginn unserer Beziehungen aus
Versehen narzißtisch gekränkt - daraufhin hatte sie zurückgeschlagen
und mein Buch aus dem Verkehr gezogen. Ich
war nicht verramscht worden - da gab's vertragliche Klauseln -‚
sondern aus dem Verkauf zurückgezogen worden. (Mehr will
ich dazu nicht sagen - würde mir doch keiner glauben. Es hat
dann noch drei oder vier Jahre gedauert, bis Buch neun
schließlich wirklich verramscht war!)
Und so geschah es, daß ich nach fünfundzwanzigjähriger
schriftstellerischer Arbeit plötzlich mit keinem einzigen Buch
mehr auf dem Markt vertreten war. Plötzlich war ich ein freier
Mann, hatten diesen Irrsinn meines Lebens hinter mich gelassen.
Doch nur für wenige Wochen, dann hatte Lektor Gustav
mein Buch sechs rausgebracht - zwölf Jahre nachdem es geschrieben
worden war. In mir war aber etwas zerbrochen, ich
hörte das metallene Geräusch, mit dem ein Stück Feder sprang.
Zum Glück erfuhr Buch sechs kein Echo, eisiges Schweigen der
Gegenreformationskritik (bis auf vier oder fünf erste Kritiken
habe ich wenigstens nie welche in die Hand bekommen).
Schreiben mochte ich danach nicht mehr - nur noch ein
bißchen nachdenken: über Vernunft, Verstand. Und so saß ich
vor meinem Buch zwölf, »Versuch einer Theorie der Rationalität«, und bei jedem Mal wurde es dünner. Inzwischen ist es nur
noch ein Essay von wenigen Seiten.
Obwohl ich's nicht vorhatte, habe ich sogar noch mal ein
Buch geschrieben, Buch dreizehn, in dem ich über mich selbst
nachgedacht habe, Arbeitstitel: Die Wörter. Beim Schreiben
habe ich Tränen gelacht. Sogar in den Verlagsversand habe ich
dieses Manuskript gegeben: die Leute sind meistens ziemlich
beeindruckt - wenn's nach Monaten zurückkommt. Nach Lektor
Bertas Eindruck soll es phantastische Passagen haben, wie ich
um Ecken rum erfuhr. Kürzlich kriegte ich es nach über einem
Jahr von einem Verlag zurück, und da hatten sie einen
handschriftlichen Zettel drin vergessen: "Anbei ein interessantes
Romanmanuskript zur Prüfung (unbrauchbare Ms.
schicke ich immer gleich direkt zurück). Vielleicht ist der Verfasser
komplett verrückt - auf jeden Fall erscheint mir die Sache
originell. Herzlich UIIi".
Inzwischen habe ich sogar einen Computer, hat mir mein
Sohn aufgeschwatzt - der, dem ich damals die Kinderbücher
zwei, vier, fünf und sechs vorgelesen habe, er ist nun
Physikstudent -‚ ich müsse mit der Zeit gehen, solle ein
moderner Mensch werden! Ich schreibe zwar nicht mehr, doch
Buch eins habe ich kürzlich im Computer neu geschrieben, nur
aus Spaß, um die Schwierigkeiten des Computers beherrschen
zu lernen. War schon interessant, sich selbst nach fast dreißig
Jahren im Erstlingsbuch zu begegnen. (Man lobt sich ja nicht
selbst: doch irgendwie hatte ich den Eindruck, gute
Schreiberanlagen gehabt zu haben und daß aus mir unter
Umständen etwas hätte werden können).
So gehen die Tagesjahre im freien Leben eines Autors, der
nichts mehr schreibt, dahin. Kürzlich (na, ist schon fast wieder
ein Jahr her) habe ich sogar noch mal gezielt ein Manuskript
verschickt: an einen Kleinverlag, der Manuskripte suchte. Ich
habe einfach mal Buch zehn hingeschickt, das aus dem Jahre
1977. Schon nach drei Wochen waren die begeistert und wollten
es haben - so schnell hatte sich vorher noch nie in meinem
Leben ein Lektorat entschieden.
Nur war das ein sehr kleiner Verlag, der einen Druckkostenzuschuß
brauchte. Zuerst kriegte ich die Wut - dann: Wieviel?
Siebentausend plus Mehrwertsteuer, dafür 15 Prozent Tantieme.
Nachdem ich längere Zeit darüber nachgedacht hatte, kam mir
nur noch die Mehrwertsteuer pervers vor. Buch zehn hatte ich
geschrieben, gleich nachdem meine Mutter gestorben war, und
von meinem Vater, der inzwischen auch tot und zu Lebzeiten
absolut nichts von meiner Schreiberei gehalten hatte, besaß ich
noch ein paar Tausend Mark: O.k., ich mach's, sagte ich - o.k.,
das Buch erscheint im Herbst 1986, schrieben die.
Ich setzte mich also in diesem Frühjahr hin und korrigierte
noch mal Buch zehn, sehr sorgfältig, wochenlang. Ein wirklich
gutes Buch! dachte ich vor mich hin. Als nun der Kleinverlag
jetzt im Mai sich immer noch nicht gemeldet hatte wegen der
Herausgabe unseres Buches, schrieb ich hin: wenn das Buch
im Herbst erscheinen solle, werde es aber höchste Zeit! Als
Antwort kam: Nein, sie hätten es sich überlegt, die Zeiten seien
im Moment zu schlecht, vielleicht später mal.
Das Buch, das ich in den zehn Jahren seines Bestehens ein
halbes Dutzend mal umgeschrieben habe, dessen Druck ich
selbst bezahlen wollte mit siebentausend Mark plus Mehrwertsteuer -
völlig hoffnungslos sollte es sein! Wieder zerbrach
etwas in mir, ich hörte es richtig. Noch am gleichen Tag setzte
ich mich an den Computer, überarbeitete Buch zehn ein
weiteres Mal und speicherte es auf Diskette. Innerhalb weniger
Wochen war es fertig.
Und jetzt bin ich Terrorist - habe mich mit einem Hacker zu-
sammengetan! Sie verstehen nicht, nein? Ein Hacker, so ein
Computerfreak, der die Datenanlagen anderer Firmen anzapft.
Wir haben bereits die EDV-Anlage eines Großverlages
geknackt und sind im Allerheiligsten, da wo's ums Geld-
knowhow geht. Deren wichtigste Daten löschen wir jetzt und
jagen ihnen dann dafür mein Buch zehn in die EDV! Natürlich
anonym. Was glauben sie, wie oft dann mein Buch gelesen
wird, langsam, Buchstabe für Buchstabe, von den Lektoren, der
Verlagsleitung, der Kripo, Staatsanwaltschaft - nur um
vielleicht Hinweise auf den Täter zu bekommen.
Dieter Pflanz
PS.: Verleger und Lektoren haben alle das große Herz eines
Dichters. Ihr Gesamtkunstwerk ist ihr Programm, und um die
eigene Sprachlosigkeit zu überwinden, dazu brauchen sie die
Autoren.