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Aus einem Schreiberleben

Über Verleger, Lektoren und ihr Gesamtkunstwerk

Der offene Brief des Autors Rainer Wochele an eine Lektorin, der sein Buchmanuskript seit über einem Jahr zur Begutachtung vorliegt, hat mich amüsiert. Das Verhältnis dieses Autors zum Lektorats- und Verlagswesen scheint noch romantisch verklärt zu sein, wahrscheinlich ist es geprägt worden vom Bild des Lektors Perkins, der F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Thomas Wolfe entdeckte und deren Werke jahrzehntelang betreute. Dieser Lektor, dem Wolfe in "Von Zeit und Strom" die Widmung setzte: "Maxwell Evarts Perkins, dem großen Redakteur und dem tapferen, ehrenhaften Mann, der dem Verfasser dieses Buches in Zeiten der bitteren Hoffnungslosigkeit unentwegt beistand und es nicht zuließ, daß dieser seinen Zweifeln unterlag, ist das Werk gewidmet ... Kriton, mein lieber Freund Kriton, dies, glaube mir, dies ..." (jetzt aber schnell mit Zitieren aufhören). Dieser Lektor Perkins, von dem der alternde Hemingway in seinen Briefen schreibt: Der mit dem komischen kleinen Hut da in New York, der sein Freund im Verlag gewesen sei — und jetzt, da er tot, habe er dort keinen Freund mehr.
Das ist doch alles romantische Verklärung, nicht mehr zeitgemäß. Was ist denn heute ein Jahr warten? Lassen Sie sich mal zum Spaß von mir berichten - von abhanden gekommenen Jahrzehnten.
Als ich anfing mit Schreiben war auch ich, wie jeder Mensch mal, jung und von Vorstellungsbildern über Hemingway, Wolfe, Perkins verdorben. Zuerst sah ich mir die großen Autoren an, dann beschloß ich, selbst Schreiber zu werden. Ich war Student, hatte gerade wochenlang mit dem Kajak südfranzösische Wildflüsse befahren - als ganz bewußtes Training, um mir beim Schreiben einen "langen Atem" anzugewöhnen, schrieb ich also als erstes ein Reisebuch über die kurz zurückliegenden Erlebnisse beim Wasserwandern. (Da ich inzwischen einen Computer habe, der mein Leben verwaltet, bekommen alle meine Bücher Zahlen und alle meine Verlage/Lektoren Namen aus dem Buchstabierungscode: das Reisebuch ist Buch eins).
Buch eins war 1957 fertig, und ich begann, es an Verlage zu verschicken, bekam es aber ständig zurück, meistens nach monatelangen Wartezeiten. Doch das beunruhigte mich nicht weiter, da dies Buch eigentlich nur Schreibtraining gewesen war, außerdem war ich inzwischen schon mit Buch zwei beschäftigt: diesmal ein Kinderbuch, auch als ganz bewußtes Training, um das Schreiben von Dialogen zu üben.
Buch zwei war 1959 fertig, ich tat's zu Buch eins in den Hinundherversand und fing kurz darauf Buch drei an: etwas Seriöses, die Geschichte einer Kindheit in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Buch drei wurde im Herbst 1960 fertig - ich packte es schon mal zu den anderen in den Versand, setzte mich an die Zweitfassung dieses Buches.
1961 war ich immer noch beim Überarbeiten von Buch drei und alle zusammen waren noch immer im Manuskriptversand. In diesem Jahr starb mein Großvater - meine Mutter erbte einige Tausend Mark, und ich bat sie um Geld für den Druck von Buch eins an. Meine Mutter hatte als Mutter natürlich Vorurteile: glaubte an mich und gab mir das Geld. Also ließ ich Buch eins, das Reisebuch, in einer Auflage von 1500 Exemplaren drucken und vertrieb es selbst (um dem Lebensablauf vorzugreifen: die Auflage dieses Buches wurde ganz verkauft, an Wasserwanderer, Kanuvereine, die werbemäßig gut zu erreichen waren).
Die Manuskripte der Bücher zwei und drei verfeinerte ich laufend und verschickte sie unentwegt an Verlage. Etwa 1965 geriet ich mit Buch zwei an einen winzigen Verlag, von dem ich vorher noch nichts gehört hatte: und der wollte es. Plötzlich hatte ich einen richtigen Verleger und war richtiger Schriftsteller. Ich war so happy, daß ich auf einen Verlagsvertrag verzichtete und mich mit kurzer brieflicher Abmachung zufrieden gab (als Tantieme 10 Prozent vom Ladenpreis jedes verkauften Buches).
Buch zwei ging nicht besonders. Nach einiger Zeit bekam ich vom Verleger Anton einen Brief, in dem er sich verwünschte, dieses verdammte Buch je gedruckt zu haben. Das Schreiben erschreckte mich ziemlich, so daß ich mich danach nie wieder nach dem Absatz erkundigte - ich bekam auch nie Abrechnungen oder nur einen Pfennig Geld an Tantiemen. Zwischen mir und Verleger Anton war das Leichentuch des Vergessens gespannt.
Die Jahre gingen dahin, ich war längst verheiratet, der Sohn wuchs heran, das Manuskript von Buch drei war inzwischen rund fünfzigmal von Verlagen abgelehnt worden. Und da plötzlich, eines Tages 1968 geriet ich an einen Lektor, der ein bekannter Lektor war und der tatsächlich sagte: das Manuskript gefalle ihm, daraus ließe sich ein großartiges Jugendbuch machen!
Zuerst war ich befremdet, da ich Buch drei nicht als Jugendbuch gedacht hatte, aber Lektor Berta machte mir Mut, gab mir Selbstvertrauen, und ich fing an, das Manuskript noch einmal zu überarbeiten. Ich machte jedoch keine Kompromisse - als das Buch fertig war, überprüfte ich, ob ich es an irgendwelchen Stellen zur Erbauung der Jugend aufgeweicht hatte: nein, nirgendwo, das waren harte Geschichten aus dem Krieg und der Nachkriegszeit.
Ich hatte Buch drei für Lektor Berta ohne vertragliche Abmachungen überarbeitet. Nun begab es sich, daß Lektor Berta sich mit dem Verleger überwarf und den Verlag wechselte. Ich sah meine Felle davonschwimmen, doch Lektor Berta bat mich, das Manuskript zu seinem neuen Verlag mitnehmen zu dürfen: gleich im Startprogramm solle es dort erscheinen.
Als es um die Vertragsabmachungen ging, schaltete ich als von Verleger Anton gebranntes Kind, von dem ich nie einen Pfennig gesehen, eine literarische Agentur ein, was wohl Lektor Berta verschnupfte. Doch der Vertrag wurde geschlossen und das Buch erschien - zwar nicht im Startprogramm des neuen Verlages, aber im nächsten Jahr 1972 (zwölf Jahre nachdem ich die Erstfassung vollendet hatte).
Buch drei bekam „hinreißende Kritiken" (spätere Aussage von Lektor Berta), kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis, wurde ins Dänische übersetzt. Plötzlich hatte ich einen gewissen Ruf als Schriftsteller, an Hochschulen wurden Seminararbeiten über das Buch geschrieben, Texte von mir druckten Schulbücher nach. In einem didaktischen Lehrbuch für Religionslehrer wurde eine Geschichte beispielhaft abgedruckt: Ernest und ich zusammen, nur wir beide, zum Thema Tod - ich zusammen mit Ernest Hemingway.
Ich fühlte meine Kraft und legte los. Zuerst Kinderbücher. Der Sohn war klein, gerade im ersten Lesealter - war wirklich schön, diese Bücher zu schreiben. Doch Lektor Berta wollte nicht so recht bei Buch vier und fünf anbeißen - machte nichts, meine Agentin besorgte mir einen weiteren Verlag mit Lektorin Cäsar.

Lektorin Cäsar war von den Kinderbüchern angetan und brachte im Laufe der Jahre drei raus, als drittes mein Erstlingskinderbuch, Buch zwei, als überarbeitetes Remake. Doch der Verkauf der Bücher war nicht besonders, von der renommierten Kritik wurden wir bei den Kinderbüchern ziemlich totgeschwiegen - damals war anderes 'in', es waren die hoffnungsvollen Aufbruchsjahre der siebziger. (Später erzählte mir Lektorin Cäsar, als sie alt und vom Verlag gefeuert und meine Bücher längst wieder verramscht waren, ich sei der einzige Autor von Qualität gewesen, den sie persönlich in ihrem Lektorenleben entdeckt habe - noch mit einem anderen Autor zusammen, dessen Namen ich aber vergessen habe.)
Buch vier und fünf waren nur die Vorbereitung gewesen: für Buch sechs, auch ein Kinderbuch, ein ganz wildes. Ich hatte inzwischen unendlich über Kinder und Kindheit nachgedacht und wußte jetzt, wie Kinderbücher sein mußten. Das mit Buch sechs, mit der Erstfassung, war 1970. Ich legte es Lektor Berta vor, den ich für meinen 'eigentlichen' Lektor hielt (so. unter Thomas Wolfe: „Kriton, mein lieber Freund Kriton..."), doch der winkte ab - vielleicht später mal. Ich schickte das Manuskript Lektorin Cäsar: an ihrem Antwortschreiben sah ich, daß sie vor Entsetzen geradezu die Hände überm Kopf zusammengeschlagen hatte.
Ich hielt Buch sechs für das beste Kinderbuch, das ich geschrieben hatte - irgendwas stimmte hier nicht. Um mich verständlicher zu machen, baute ich einen Entlastungsangriff über die Flanke auf und schrieb die theoretisch-essayistische Abhandlung »Versuch über das „Erotische" - von der sinnlichen Erfahrung der Welt durchs Kind«. Das war Buch sieben - nein, Buch acht, als Buch sieben hatte ich zwischendurch noch einen Erwachsenenroman über eine Frau geschrieben, den Lektor Berta zwar auch ablehnte, aber doch so gut fand, daß er mir riet, es damit mal bei den ganz großen, renommierten Verlagen zu versuchen.
Ich wurde kein Buch mehr los und arbeitete unentwegt an meinem »Versuch über das „Erotische" «. Schließlich hatte ich die Erleuchtung: Bei den Schwierigkeiten des Verstehens und den Qualitäten von Kinderbüchern ging's eigentlich nur um eins - Ums Denken! Plötzlich spaltete sich Buch acht auf, und ich schrieb den Essay "Versuch einer Theorie der Rationalität". Das war aber Jahre später, deshalb bekommt dieses Buch schon die Nummer zwölf. Zwischendurch wurde ich nämlich von meinem pädagogischen Job gefeuert, in dem ich laufend mit Kindern zusammengekommen war, und beschloß deshalb, noch schnell ein Buch zu schreiben, so lange ich Geld zum Leben hatte. Großzügig wie Arbeitgeber sind, hatte ich bereits ein halbes Jahr vorher erfahren, daß dann und dann das Arbeitsverhältnis beendet sei - ich wollte ganz bewußt, dieses letzte halbe Jahr zum Schreiben eines neuen Buches nützen, und es sollte ein ganz freies, wildes Buch werden. Ich setzte mich hin, sagte mir jeden Tag Thoreaus Essaytitel „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" auf und schrieb eine Geschichte, die von den Abenteuern der Liebe und den Abenteuern des Denkens handelte, deren Held ein Heranwachsender war.
Mit Buch neun war ich genau am letzten Tag meines geregelten Werklebens fertig - echt wahr -, am nächsten Tag wurde ich arbeitslos (übrigens meine Frau gleich mit: wir sind beide am gleichen Tag arbeitslos geworden, obwohl wir bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet hatten - das erwähne ich aber nur der Ordnung halber). Lektor Berta lehnte das Buch neun ab. Dann starb meine Mutter - die, die an mich geglaubt und mir das Geld zum Druck von Buch eins gegeben hatte -‚und ich setzte mich hin und schrieb Buch zehn, Titel: „Kein Grund zur Trauer oder eine Frau" (das Buch handelte nicht von meiner Mutter, der Held war nur eine Frau).
Während ich Buch zehn schrieb wurde Buch neun von rund zehn Verlagen abgelehnt. Und dann eines Tages schrieb plötzlich meine Agentin: eben habe die Verlagsleitung von Verlag Dora angerufen - sie habe ein großartiges Lektoratsgutachten über Buch neun vorliegen, wolle es zwar noch selbst lesen, möchte aber schon mal etwas über den Autor erfahren.
Das Buch wurde genommen, die Verlagsleitung selbst betreute die Herausgabe. Es sollte zwar als Jugendroman platziert werden, etwa fürs Alter ab 16 Jahren, was mir nicht gefiel - doch ich hielt Sechzehnjährige für Erwachsene und verstand die Schwierigkeiten der Verlage mit dem Pillenknick, der nicht mehr genug junge Leser nachwachsen läßt.
Buch neun erschien, bekam gute Kritiken, wurde ins Niederländische übersetzt. Eine Rundfunkanstalt schrieb, ob ich nicht Lust hätte, mal ein Hörspiel zu schreiben - und ich schrieb zum ersten Mal Hörspiele, zwei Stück in drei Wochen, und dann noch ein drittes hinterher. Nachdem ich die Hörspiele abgeliefert hatte, regte sich aber nicht mehr viel beim Sender (ich meine, drei Jahre lang, bis endlich das eine gesendet wurde).
Doch an anderen Fronten regte sich eine Menge: Lektor Berta schrieb, die Auflage von Buch drei sei jetzt ausverkauft und könne nicht nachgedruckt werden - sorry, tue ihm wirklich leid. Etwa um die gleiche Zeit kam von Verlag Cäsar die Nachricht, daß sie Buch vier verramschen müßten, leider, und etwas später wurde mitgeteilt, daß Verlag Cäsar mit meinen Kinderbüchern zwei und fünf an einen anderen Verlag verkauft worden sei, der damit das Kennzeichen Emil bekommt. Verlag Emil war einer der ganz großen Verlagskonzerne, und ich hegte allerhand Hoffnungen: jetzt geht's richtig los!
Parallel zu diesen Hoffnungen wollte Verlag Dora ein weiteres Buch neben Buch neun zur Herausgabe vorbereiten, und ich sandte die Manuskripte ein, die schon fertig dalagen: das wilde Kinderbuch sechs, den Roman zehn, die Essaybücher acht und zwölf, das Reisebuch eins, das inzwischen im Selbstverlag aufgekauft war. Und ich schrieb noch schnell Buch elf, einen Roman, "Die Pädagogen" - angeregt durch meine Erfahrungen als Pädagoge (Langlang war's her, denn eine neue Arbeitsstelle hatte ich nicht wieder gefunden). Doch alle vorgelegten Manuskripte wurden von der Verlagsleitung Dora abgelehnt. Der Ton wurde seltsam frostig, und ich überlegte verzweifelt, was da los sein könnte.
In der Zwischenzeit hatte sich die Gegenreformation formiert. Zuerst war die Kritik mit Buch neun sehr aufgeschlossen umgegangen, plötzlich wurde von Bayern her über ein großes Blatt zum Angriff geblasen: Jugendroman und offener Sex - nein! Berührte mich aber nicht besonders. Das Buch wurde ins Niederländische übersetzt, in Arbeitsgruppen an großen Hochschulen als Seminarthema abgehandelt: 'Salingers Fänger im Roggen und Buch neun - als Gegenüberstellung'. Und Teile aus Buch neun wurden mit Texten anderer Autoren zu einer Anthologie von Liebesgeschichten zusammengestellt (Klappentext: "gehören sicherlich zu den schönsten Liebesgeschichten, die in den letzten Jahren entstanden sind").
Das mit dem Hochschulseminarthema erfuhr ich aber erst Jahre später, als es Buch neun schon nicht mehr gab, und das mit der Liebesgeschichtenanthologie geschah in diesem Frühjahr 1986. Als Buch neun herauskam, war es 1979.
Um die Zeit damals lernte ich auf einer Tagung in Osterreich den jungen Lektor Friedrich kennen, der gerade bei Verlag Friedrich anfing. Er fragte, ob ich nicht ein Manuskript für ihn hätte - ich schickte ihm Buch sechs, das wilde Kinderbuch, und er war begeistert, nahm's sofort.
Ich war auch begeistert, sah immer noch Morgenrot. Eines Tages brauchte ich wieder mal meine eigenen Kinderbücher, zum Verschenken, und bestellte etliche Exemplare bei Verlag Cäsar, der jetzt zum Verlagskonzern Emil gehört und von einer speziellen Vereinigten Verlagsauslieferung bedient wurde. Kurz darauf bekam ich vom Computer die Antwort: Titel nicht mehr lieferbar! Ich schrieb an den Verlag, drang auf Klärung, bekam aber nie eine Antwort - ich weiß nur, daß Verlag Cäsar/Emil meine Bücher zwei und fünf verramscht hat, ohne mir je eine Nachricht darüber zukommen zu lassen.
Nicht schön - aber Buch sechs war ja schon in Vorbereitung, das wilde, beste Kinderbuch, das ich je geschrieben hatte (was ich heute noch glaube). Die Druckfahnen waren schon korrigiert, alles klar, und da plötzlich las ich in der Zeitung, daß der Verlagskonzern, zu dem Verlag Friedrich gehörte, Konkurs angemeldet hatte.
Macht nichts, sagte Lektor Friedrich, den ich daraufhin sofort anrief. Ich habe schon einen neuen Verlag, Ihr Buch nehme ich mit!
Also bekommt der Lektor Friedrich das neue Kennzeichen Gustav. Zum Glück war im Verlagsvertrag eine Konkursklausel gewesen, so daß wir das Manuskript sofort aus der Konkursmasse des Verlags Friedrich freibekamen und das Buch sechs dann im Verlag Gustav erscheinen konnte.
Doch ich greife vor - soweit war's noch nicht. Wieder mal brauchte ich Exemplare meines Buches neun und bestellte welche bei meinem Verlag Dora. Als Antwort kam: Nicht mehr lieferbar. Ich fragte an, was da los sei, die Auflage könne doch nicht ausverkauft sein. Langes Schweigen, dann Telefonat des Vertriebschefs: man habe mir Falsches geschrieben - das Buch sei lieferbar, sei nur schon mal zum Verramschen ausgesondert worden.
Weniger als drei Jahre nach Erscheinen zum Verramschen ausgesondert! Ich war bereits aus allen Druckschriften des Verlages Dora getilgt, selbst aus den ellenlangen Backlists, welche Bücher enthielten, die vor Jahrzehnten gedruckt worden waren. Diesen Fall konnte ich nur tiefenanalytisch aufklären, so daß er für mich halbwegs einsichtig wurde: ich hatte Verlagsleitung Dora gleich zu Beginn unserer Beziehungen aus Versehen narzißtisch gekränkt - daraufhin hatte sie zurückgeschlagen und mein Buch aus dem Verkehr gezogen. Ich war nicht verramscht worden - da gab's vertragliche Klauseln -‚ sondern aus dem Verkauf zurückgezogen worden. (Mehr will ich dazu nicht sagen - würde mir doch keiner glauben. Es hat dann noch drei oder vier Jahre gedauert, bis Buch neun schließlich wirklich verramscht war!)
Und so geschah es, daß ich nach fünfundzwanzigjähriger schriftstellerischer Arbeit plötzlich mit keinem einzigen Buch mehr auf dem Markt vertreten war. Plötzlich war ich ein freier Mann, hatten diesen Irrsinn meines Lebens hinter mich gelassen. Doch nur für wenige Wochen, dann hatte Lektor Gustav mein Buch sechs rausgebracht - zwölf Jahre nachdem es geschrieben worden war. In mir war aber etwas zerbrochen, ich hörte das metallene Geräusch, mit dem ein Stück Feder sprang. Zum Glück erfuhr Buch sechs kein Echo, eisiges Schweigen der Gegenreformationskritik (bis auf vier oder fünf erste Kritiken habe ich wenigstens nie welche in die Hand bekommen).
Schreiben mochte ich danach nicht mehr - nur noch ein bißchen nachdenken: über Vernunft, Verstand. Und so saß ich vor meinem Buch zwölf, »Versuch einer Theorie der Rationalität«, und bei jedem Mal wurde es dünner. Inzwischen ist es nur noch ein Essay von wenigen Seiten.
Obwohl ich's nicht vorhatte, habe ich sogar noch mal ein Buch geschrieben, Buch dreizehn, in dem ich über mich selbst nachgedacht habe, Arbeitstitel: Die Wörter. Beim Schreiben habe ich Tränen gelacht. Sogar in den Verlagsversand habe ich dieses Manuskript gegeben: die Leute sind meistens ziemlich beeindruckt - wenn's nach Monaten zurückkommt. Nach Lektor Bertas Eindruck soll es phantastische Passagen haben, wie ich um Ecken rum erfuhr. Kürzlich kriegte ich es nach über einem Jahr von einem Verlag zurück, und da hatten sie einen handschriftlichen Zettel drin vergessen: "Anbei ein interessantes Romanmanuskript zur Prüfung (unbrauchbare Ms. schicke ich immer gleich direkt zurück). Vielleicht ist der Verfasser komplett verrückt - auf jeden Fall erscheint mir die Sache originell. Herzlich UIIi".
Inzwischen habe ich sogar einen Computer, hat mir mein Sohn aufgeschwatzt - der, dem ich damals die Kinderbücher zwei, vier, fünf und sechs vorgelesen habe, er ist nun Physikstudent -‚ ich müsse mit der Zeit gehen, solle ein moderner Mensch werden! Ich schreibe zwar nicht mehr, doch Buch eins habe ich kürzlich im Computer neu geschrieben, nur aus Spaß, um die Schwierigkeiten des Computers beherrschen zu lernen. War schon interessant, sich selbst nach fast dreißig Jahren im Erstlingsbuch zu begegnen. (Man lobt sich ja nicht selbst: doch irgendwie hatte ich den Eindruck, gute Schreiberanlagen gehabt zu haben und daß aus mir unter Umständen etwas hätte werden können).
So gehen die Tagesjahre im freien Leben eines Autors, der nichts mehr schreibt, dahin. Kürzlich (na, ist schon fast wieder ein Jahr her) habe ich sogar noch mal gezielt ein Manuskript verschickt: an einen Kleinverlag, der Manuskripte suchte. Ich habe einfach mal Buch zehn hingeschickt, das aus dem Jahre 1977. Schon nach drei Wochen waren die begeistert und wollten es haben - so schnell hatte sich vorher noch nie in meinem Leben ein Lektorat entschieden.
Nur war das ein sehr kleiner Verlag, der einen Druckkostenzuschuß brauchte. Zuerst kriegte ich die Wut - dann: Wieviel? Siebentausend plus Mehrwertsteuer, dafür 15 Prozent Tantieme.
Nachdem ich längere Zeit darüber nachgedacht hatte, kam mir nur noch die Mehrwertsteuer pervers vor. Buch zehn hatte ich geschrieben, gleich nachdem meine Mutter gestorben war, und von meinem Vater, der inzwischen auch tot und zu Lebzeiten absolut nichts von meiner Schreiberei gehalten hatte, besaß ich noch ein paar Tausend Mark: O.k., ich mach's, sagte ich - o.k., das Buch erscheint im Herbst 1986, schrieben die.
Ich setzte mich also in diesem Frühjahr hin und korrigierte noch mal Buch zehn, sehr sorgfältig, wochenlang. Ein wirklich gutes Buch! dachte ich vor mich hin. Als nun der Kleinverlag jetzt im Mai sich immer noch nicht gemeldet hatte wegen der Herausgabe unseres Buches, schrieb ich hin: wenn das Buch im Herbst erscheinen solle, werde es aber höchste Zeit! Als Antwort kam: Nein, sie hätten es sich überlegt, die Zeiten seien im Moment zu schlecht, vielleicht später mal.
Das Buch, das ich in den zehn Jahren seines Bestehens ein halbes Dutzend mal umgeschrieben habe, dessen Druck ich selbst bezahlen wollte mit siebentausend Mark plus Mehrwertsteuer - völlig hoffnungslos sollte es sein! Wieder zerbrach etwas in mir, ich hörte es richtig. Noch am gleichen Tag setzte ich mich an den Computer, überarbeitete Buch zehn ein weiteres Mal und speicherte es auf Diskette. Innerhalb weniger Wochen war es fertig.
Und jetzt bin ich Terrorist - habe mich mit einem Hacker zu- sammengetan! Sie verstehen nicht, nein? Ein Hacker, so ein Computerfreak, der die Datenanlagen anderer Firmen anzapft. Wir haben bereits die EDV-Anlage eines Großverlages geknackt und sind im Allerheiligsten, da wo's ums Geld- knowhow geht. Deren wichtigste Daten löschen wir jetzt und jagen ihnen dann dafür mein Buch zehn in die EDV! Natürlich anonym. Was glauben sie, wie oft dann mein Buch gelesen wird, langsam, Buchstabe für Buchstabe, von den Lektoren, der Verlagsleitung, der Kripo, Staatsanwaltschaft - nur um vielleicht Hinweise auf den Täter zu bekommen.

Dieter Pflanz


PS.: Verleger und Lektoren haben alle das große Herz eines Dichters. Ihr Gesamtkunstwerk ist ihr Programm, und um die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden, dazu brauchen sie die Autoren.