Artikel:
erschienen in Zeitschrift: JUGEND UND BUCH,
4/1979
(Hrsg: Internationales Institut für Jugendliteratur, Wien).
Zu meiner Person und meinem Schreiben
Biografische Notizen:
Geboren 1934 in Witten/ Ruhr, aufgewachsen in Vlotho an der Weser
(Ostwestfalen). Mathematisch-naturwissenschaftliches Abitur, studierte
einige Semester Zoologie und Naturwissenschaften in Göttingen, dann
Germanistik und Philosophie, Psychologie, besuchte viele Vorlesungen
in französischer, englischer, amerikanischer Literatur, in Freiburg.
Dieter Pflanz war danach viele Jahre in einer Pädagogischen Arbeits-
und Forschungsstelle - beteiligt an der Entwicklung von pädagogischen
Planspielen - tätig, danach in einem Modellversuch des
Bundeswissenschaftsministeriums, wo er für die pädagogische Arbeit
mit Kindern zuständig war. Im Rahmen von familienpädagogischen
Seminaren ist er hier mit Hunderten von Kindern zusammengekommen -
von einem bis zu sechzehn, siebzehn Jahren.
Dieter Pflanz über die Art seiner Literatur:
Der Mensch scheint mir weniger ein denkendes Wesen zu sein als ein
wissendes. Er ist das "Lerntier", das unentwegt dabei ist, Informationen
aufzunehmen und als Wissen zu speichern, und über dieses gespeicherte
Wissen steuert er dann meistens seine Handlungen.
Das Wissen eines Menschen ist weitgehend zustandegekommen durch
Einflußnahme der sozialen Umwelt: Er hat es aber nicht nur durch
andere gelernt, sondern meistens auch in der Richtung, die die
anderen gewünscht haben. Man könnte zum Beispiel alle Erziehungsprozesse
- vor allem in der Kindheit, aber auch später noch - abstrahiert als
"Übernahme von durch andere angeregtes Wissen" verstehen. Hier lernt
der Mensch: dies ist (von den anderen) gern gesehen, das weniger, dies
ist "richtig" und das ist "falsch". Dieses Wissen umfaßt beinahe alles:
die Handlungsnormen, die Werte, aber auch die mehr oder weniger
rationalen Erklärungen für Erscheinungen der Welt und das meiste
schulische Wissen. Und es können sogar Vorurteile, neurotisches
Fehlverhalten u.ä. dazugehören (auch ein Minderwertigkeitsgefühl
oder Schuldgefühl oder Waschzwang sind oder werden ausgelöst durch
gelerntes Wissen!).
An dem letzten Beispiel ist deutlich geworden, daß Wissen nicht immer
"richtig" sein und für den Betreffenden nur "gute" Auswirkungen haben
muß. Es wird von ihm zwar subjektiv als "richtig" anerkannt, wenn es
bewußt zur Handlungssteuerung benutzt wird, doch es kann unter Umständen
lebensbedrohende Auswirkungen haben (siehe neurotisches Fehlverhalten).
Im Leben eines jeden käme es also darauf an, das gelernte und
gespeicherte Wissen durch eigene Denkprozesse auf Richtigkeit, Nutzen,
Wert undsoweiter zu überprüfen, sozusagen durch Denken zu kultivieren.
Und ich halte dies für die eigentliche Lebensaufgabe eines jeden.
Das klingt leicht, ist aber wohl das Schwierigste, was es gibt: das
eigene Denken gegen das eigene Wissen zu führen, um so die
Entscheidungsprozesse für Handeln auf beweglichere Ebenen zu heben. Es
ist deshalb so schwer, weil jedes gespeicherte Wissen Schutzmechanismen
eingebaut hat, die es zu verteidigen suchen, sobald es bedroht scheint.
Und "Denken" kann eine ungeheure Bedrohung für "Wissen" sein. Zwischen
beiden läuft ständig ein Kampf ab - den, nach meinem Eindruck, aber
meistens das Wissen gewinnt. Leider.
Mir scheint, daß das, was wir "Gefühle" nennen, die Schutzmechanismen
für gespeichertes Wissen sind. Um es abstrakt, theoretisch zu sagen:
Jede Lernerfahrung, die durch die Einflußnahme der sozialen Umwelt
zustandegekommen und als Wissen gespeichert ist, wird geschützt von
potentiellen "Gefühlen", die sofort in Aktion treten, wenn der Rahmen
des Wissens bedroht scheint (anders: "Gefühle" verstehe ich als
physiologische Schutzreaktionen für "bedingte Reflexe" - wenn man
Lernerfahrungen als Einschleifung von "bedingten Reflexen" ansehen will).
Weil jedes gelernte Wissen auch in der Physiologie des Körpers "befestigt"
ist, ist es so schwer zu verändern. Die Minderwertigkeitsgefühle eines
Menschen "schützen" - wenn es auch absurd klingt - sein (gelerntes)
Wissen von der eigenen Minderwertigkeit. Er kann sich ruhig sagen:
"Du hast einen Minderwertigkeitskomplex - laß es!", oder andere können
es ihm sagen, und dennoch laufen in bestimmten Situationen weiter die
Minderwertigkeitsgefühle ab mit allen Folgen in Fehlhandlungen
undsoweiter. -
Nun zum Schriftsteller. Wie gesagt gibt es im Menschen zwei
grundverschiedene Steuerungsorgane: sein Wissen und sein Denken.
Und hier muß der Schriftsteller sich meines Erachtens entscheiden,
ob er bei seinen Lesern an der Erweiterung des Wissens oder des Denkens
arbeiten will. (Ich trenne diese verschiedenen Ebenen künstlich so
überscharf, um sie zu verdeutlichen, in Wirklichkeit mischen sie sich
natürlich laufend, einmal mehr, einmal weniger).
Die meisten Kinder- und Jugendbücher scheinen mir auf der Ebene der
"Wissensvermittlung" geschrieben zu sein. Die meisten sind sogenannte
"pädagogische" Bücher, die die Heranwachsenden zum "richtigen Verhalten"
erziehen wollen. Oft wird darin sogar knüppeldick "pädagogisch"
vorgegangen, offen oder geschickt verbrämt (politisch können die Inhalte
von ganz rechts bis ganz links reichen). Ich nenne solche Bücher -
polemisch und natürlich nur vor mir selbst - "Zuhälterliteratur". Einmal
deshalb, weil kein Mensch mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann,
was für einen anderen "richtig" ist, zum andern, weil mit solchen Büchern
erreicht werden soll (wenn man es mal exakt durchdenkt), daß die
nachwachsende Generation die vorhandenen Vorstellungen und Interessen
bestimmter Leute nicht gefährdet. (Diese Absichten können bei den
Autoren völlig unbewußt vorhanden sein - sind aber dennoch Versuche von
Herrschaft. Wie wohl jede Erziehung ein Herrschaftsversuch ist -
natürlich ein legitimer, da es Gesellschaften ohne Herrschaft meines
Erachtens nicht gibt).
Als Autor möchte ich persönlich beim Leser an der Ebene seines Denkens
arbeiten. Was - wie gesagt - schwer ist, weil das vorhandene Wissen
sich sofort gegen Denkversuche sperrt, die aus dem "Rahmen" fallen.
Und ich kann Denken auch nicht als feste Regeln vermitteln - weil dies
Wissen wäre und sofort in die ganz andere Ebene des Wissens eingehen
würde. Denken ist immer die eigene Leistung eines Menschen - hier des
Lesers -, das dieser nicht einfach von andern übernehmen und das man
deshalb auch nicht direkt lehren kann. Höchstens indirekt kann man
versuchen, Denken auszulösen, zu initiieren.
Und hier ist nun der Autor als Fallensteller gesucht. Er muß sich mit
seinen Worten bewegen im vorhandenen Wissen des Lesers: muß ihn zu
verwinkelten Pfaden verführen, Sackgassen gehen, ihn gegen Wände rennen
lassen - so daß das vorhandene Wissen verfremdet wird und plötzlich
Diskrepanzen aufreißen, die eventuell Anstoß geben zum eigenen Denken.
Bei dieser Entlarvungstechnik ist vor allem brauchbar: Humor, Komik,
Ironie (vielleicht ist das Wesen der Komik, des Humors abstrahiert
folgendes: Für richtig erachtetes Wissen wird in völlig andere
Zusammenhänge gebracht - dann das spannende, entspannende "Gefühl"
und: Lachen. Schon der alte Sokrates wußte ja, daß er Denken mit
nichts so gut in Gang bringen konnte wie mit Ironie!). Diese
Schreibtechnik befaßt sich vor allem auch mit den Gefühlen der
Leser: geht in sie hinein, verführt sie zu Fehlreaktionen, um sie
zu entlarven und so auch das damit einhergehende Wissen "anzuknacken"
und für (Be)denken zugänglich zu machen.
Um es kurz zu sagen: Ich fühle mich wohl der rationalen Aufklärung
verpflichtet. Als größte Gefahr, vor der wir heute stehen, sehe ich
den wiederaufkommenden Irrationalismus an. Irrationales Denken entsteht
aber aus als "richtig" gelerntes Wissen, das nie in Frage gestellt wird.
Und gegen diese Bastionen aus Wissen möchte ich mein Denken führen. Und
natürlich auch mein Wissen: damit beim Zusammenprall dieser
verschiedenen Mächte Denken entsteht. Denn "Freiheit" und
"Emanzipation" und "Brüderlichkeit" und wie die großen Worte
sonst noch alle heißen beginnen erst da, wo es im Menschen zum
eigenständigen Denken kommt.