Neuerscheinungen:


EIN JUNGE - ROMAN   (2000)

DAS VERRÜCKTE FÜNFZEHNTE JAHR   (2002)



EIN JUNGE
ROMAN


Ein neues Buch!:
Im Sommer fand ich im Keller ein Manuskript, das ich als 25, 26jähriger Student in Freiburg geschrieben hatte. Bin aus dem Staunen nicht herausgekommen...nach den über 41 Jahren wußte ich überhaupt nicht mehr, was ich da damals alles geschrieben hatte -. Ein richtig wildes Jugendwerk: Kindheit in der Kriegs-, Nachkriegszeit (etwa zwischen dem 6. und 16. Jahr)...in einer kleinen Stadt an der Weser.
Diesen Roman habe ich jetzt bei LIBRI BoD im Druckcomputer speichern lassen...war ich mir irgendwie noch schuldig -.

Dieter Pflanz, 15.11.02




Diether Pflanz: Ein Junge - Roman -
Groß werden im Krieg. Wie war das damals -?: Die Väter weg, an der Front oder tot...zu Hause nur die Mütter und Geschwister...auf den Straßen einige alte Männer oder Krüppel, Fremdarbeiter, Kriegsgefangene - und natürlich die Freunde. Die Streiche...Waffen, Munition, ganz selbstverständlich/ die Fliegerangriffe, Bomben/ dann der totale gesellschaftliche Zusammenbruch.

Kindheit in der Kriegs-, Nachkriegszeit. Erzählt aus der Perspektive eines Jungen, Erlebnisse und Denken zwischen dem sechsten, sechzehnten Jahr: voller Abenteuer, Spaß, Komik...aber auch voll Leid, Brutalitäten, wildem Aufbegehren:

Diether Pflanz, Ein Junge - Roman -
ISBN 3 - 8311 - 3995 - 4 / Libri BoD (248 S./ 18.-)


Auszug:

...

"Bert! Beeert...! Eh...!"
Bert sah aus dem Fenster. Draußen standen seine beiden Freunde Kuddes und Fritze. "Ja, was ist?"
"Du, die Apotheke hat Hustensaft!" schrie Fritze herauf.
"Ist gut, ich komme!" schrie Bert zurück, verschwand aus dem Fenster und stürzte zu seiner Mutter ins Wohnzimmer. "Du, Mutti, gib mir mal'n bißchen Geld, - aber schnell."
"Was willst du denn damit?"
"Die Apotheke hat wieder Hustensaft reingekriegt. Wir woll'n uns'n paar Flaschen kaufen."
"Ach, dieses schäbige Zeug, - schmeckt doch nicht...!"
"Doch, is' ganz prima."
"Na ja... Hier hast du fünf Mark. Aber den Rest bekomme ich zurück, - verstanden?!"
"Ja, ja", sagte Bert nervös, steckte das Geld ein und lief nach unten. Die beiden waren schon ein Stück vorgegangen; als er sie erreichte, fingen auch sie an zu rennen, und im Dauerlauf ring es die Straße hinunter.
Sie kamen an einem Fabrikgebäude vorbei, in dem russische Kriegsgefangene arbeiteten und auch untergebracht waren. Ein Russe, der in alte dunkelgrüne Uniformreste und aus Papiersäcken gefertigtes Zeug gekleidet war, schlürfte gerade mit einem zerbeulten Marmeladeneimer über die Straße.
"He, Iwan, - gluck, gluck...!" schrie Kuddes und machte mit der Hand eine Bewegung, als ob er eine Flasche an den Mund setzte.
"Wodka...Wodka..."
"Oh, Wodka...", sagte der Russe, zog eine Grimasse und fuhr sich mit der Zunge genießerisch über die Lippen.
"Jau, Wodka, - gluck, gluck..." Der Russe lachte, und sie rannten weiter.
Als sie zur Apotheke kamen, standen dort schon etliche Jungen mit flachen Hustensaftflaschen, aus denen sie ab und zu tiefe Schlucke nahmen.
"He...", schrie Kuddes. "Gluck, gluck..."
"Gluck, gluck...", schrie die Bande im Chor zurück und schwenkte die Flaschen.
"Haben s'e noch was?" fragte Bert.
"Jau, aber nich' mehr viel."
"Los, rein!" sagte Fritze. "Wieviel nehmen wir?"
"Für jeden eine", sagte Bert. "Erst mal sehen, ob das Zeug überhaupt schmeckt."
Sie gingen in die Apotheke und kauften drei Flaschen Hustensaft. Danach gesellten sie sich zu den andern Kindern, die draußen auf dem Bürgersteig herumstanden. Kuddes hatte als erster seine Flasche offen und probierte.
"Mensch, der schmeckt aber! So schön süß..."
"Jau, toffte...!" bestätigte Bert.
Die Apotheke lehnte sich dem Berg an und stand etwas erhöht auf einem Brink; der Gehweg davor lag etwa zwei Meter über der eigentlichen Fahrstraße. Die Kinder saßen in einer langen Reihe auf den gemauerten Pfeilern und dem Holzgeländer, ließen die Beine baumeln, lärmten herum und nahmen ab und zu tiefe Schlucke aus ihren Flaschen.
"Mensch, schmeckt der nich' prima?!" sagte ein Junge neben ihnen begeistert. "Is' schon meine fünfte Flasche! - ich hol' mich gleich aber noch eine..."
"Ich mich auch", sagte Kuddes. "Und ihr?"
"Nä", erwiderte Bert, "hab' genug." Dieser Hustensaft war doch ein widerliches Zeug, - wenigstens wenn man die ganze Flasche auf einmal austrank.
"Ich kauf' mich aber noch eine", sagte Fritze. "Komm wir gehen." Und er und Kuddes verschwanden in die Apotheke.
"Is' nich' mehr viel da, mußt dir beeilen, wenn du noch eine willst", sagte Fritze, als er zurückkam, zu dem Jungen, der sich eben die sechste Flasche Hustensaft hatte kaufen wollen.
"Och, will doch keine mehr", erwiderte der mit etwas seltsamer Stimme.
"Warum nich'? Eben wollteste doch noch!"
"Weiß nich', - mich is'so komisch im Bauch..."
"Biste schlecht...?" fragte Fritze lauernd.
"Von Hustensaft wirste doch nicht schlecht...!" sagte Kuddes.
"Ich glaub', ich bin schlecht...ääh...", stöhnte der Junge auf.
"Du kannst auch nichts vertragen...!" sagte Kuddes verächtlich.
"Müßtest erst mal richtigen Schnaps trinken! Dann machteste dich bestimmt die Hosen voll!"
"Ääh...", stöhnte der Junge und hielt sich plötzlich die Hand vorn Mund; die Kinder, die um ihn herumstanden, spritzten erschrocken auseinander. Er wankte zu dem Geländer, krümmte sich darüber und erbrach sich.
"Höhööö...", schrien alle vor Vergnügen. Sie standen, besahen sich das Schauspiel und bogen sich vor Lachen. "Höööh...höhööö..."
"Mensch, der kotzt sich aber 'ne Stange weg...!" staunte Kuddes. "Glaub', das is'n richtigen Kotzerich..." Und dann mußte er über seinen Witz selbst am lautesten lachen, und auf einmal fing er an zu schreien: "Heee, gluck, gluck...gluck...gluck..."
Die andern fanden das großartig und sehr nachahmenswert, und schließlich stand die ganze Bande um den Unglückswurm herum und schrie im Chor: "Gluck, gluck...heee, gluck...gluck...gluck..." Dann krümmten sie sich wieder vor Lachen, und dann nahmen sie zur Beruhigung ein paar tiefe Züge aus ihren Hustensaftflaschen.
In diesem Augenblick heulten auf dem nah gelegenen Rathaus die Sirenen auf: - es wurde Fliegeralarm gegeben. Gewöhnlich dachte in dem Städtchen niemand daran, bei Alarm Luftschutzkeller aufzusuchen; die Ortschaft war so klein und die Industrie so unbedeutend, daß sie hier wohl kaum Bomben werfen würden. Manchmal wurde die Eisenbahnbrücke einige Kilometer oberhalb von leichten Jagdbombern angegriffen, - das war aber auch alles, und es kam höchst selten vor.
Als die Sirenen aufheulten, machten sich die Kinder langsam auf den Weg nach Haus. Nach und nach löste sich die Versammlung vor der Apotheke auf, und zuletzt war nur noch der Junge da, dem es schlecht geworden war. Er fühlte sich noch sehr elend und stand und hielt sich an dem hölzernen Geländer fest.
Kuddes, Bert und Fritze schlenderten gelassen über die Straßen.
"Wohin?" fragte Bert.
"Laß uns zu mich gehen", sagte Fritze. "Wir haben'nen guten Keller."
Kurz bevor sie das Haus erreichten, hörten sie Flugzeuge kommen; es mußte ein großer Verband sein, denn sehen konnten sie noch nichts. Eine Weile verging, bis die ersten sichtbar wurden: - ganz kleine Punkte, die ab und zu in der Sonne aufblitzten. Sie flogen sehr hoch und kamen über den Winterberg, - das war der Berg, der der Burg gegenüber auf der andern Seite des Tales lag -, und aus der Richtung ihres Fluges konnte man ersehen, daß sie das Städtchen nicht genau überfliegen würden.
"Die fliegen vorbei!" sagte Fritze.
"Glaub' ich auch", erwiderte Bert. "Kommen genau übern Buhn!" Der Buhn war ein Hügel jenseits des Flusses.
Plötzlich wurde geschossen.
"Die Flak an'er Brücke gibt ihnen Zunder!" schrie Kuddes begeistert.
"Nä, das is' nich' die Flak, das is'n MG!" sagte Bert.
"Nä", wußte Fritze es noch besser, "Bordkanonen!"
"Klar", schrie Kuddes aufgeregt. "Seht mal! Seht mal! Die werden von'nem Jäger angegriffen! - Seht ihr's?"
"Jau, verdammt...!" schrie Fritze.
"Ich seh' nichts!" sagte Bert.
"Da, der ganz kleine Punkt. Über den Bombern der. Das is' der Jäger!" sagte Fritze und versuchte, darauf zu zeigen. Doch Bert konnte mit seinen kurzsichtigen Augen nichts erkennen.
Das Schießen wurde immer lebhafter und lauter. Nun löste sich ein Bomber aus dem Verband und schwenkte ein wenig von seinem ursprünglichen Kurs ab, - das konnte auch Bert sehen.
"Er schmeißt seine Bomben ab!" schrie Kuddes auf einmal.
Kurze Zeit verging, dann ertönte eine Reihe von Detonationen, aber von weither, schon jenseits des Flusses.
Die Flugzeuge verschwanden jetzt hinter das Dach und damit aus dem Blickfeld der Kinder. Fritze raste ins Haus, riß die Türen auf und stürmte in das Wohnzimmer einer Bekannten, an ein Fenster, das zur andern Seite hinausging. Kuddes und Bert rannten hinter ihm her.
"Er ist getroffen! Getroffen!" schrie Fritze auf. "Er brennt!"

....




DAS VERRÜCKTE
FÜNFZEHNTE JAHR

montiert
in Briefen

Ein Schriftsteller erfährt, dass die Julia aus dem Kinder-Literaturclub
mit Magersucht im Krankenhaus liegt, schreibt ihr einen Brief:
lustig, etwas spöttisch, ironisch. Und das Mädchen antwortet
in gleicher Art.

Sie schreiben sich Briefe, sprechen über Leben, schwieriges Jungsein,
Liebe, Bekannte, Krankheiten, Freunde, Tiere, die Schule. Zu
Julias 15. Geburtstag montiert er als Geschenk all die ausgetauschten
Briefe im Computer zu einem Buch. Um ihr zu helfen, sich klar zu werden,
was im vergangenen Jahr in ihrem jungen Leben alles abgelaufen ist.

Eine wahre Geschichte aus Briefen wie sie so tatsächlich über Monate
entstanden ist durch:

Julia Bonnemeier / Dieter Pflanz

****

Auszug:
Die ersten beiden Briefe:


DAS VERRÜCKTE FÜNFZEHNTE JAHR
montiert
in Briefen

Sorgfältig abgeschrieben und überreicht
an Julia
als Geburtstagsgeschenk zum Fünfzehnten


von
Dieter Pflanz




»Ohne Namen - kein Absender
Fräulein
Julia Bonnemeier
KINDERKLINIK AUF DER BULT/ Station 16
Janusz-Korczak-Allee 12

30173 Hannover

22. Oktober

Liebe Julia,

wenn Du mich auch nicht mehr kennst, hätte ich Dich doch
letzten Montag fast besucht. Hatte mich schon von meinem
Hund verabschiedet, der sonst gewöhnt ist, nachmittags lange
ausgeführt zu werden - war mit ihm nur kurz auf die Ödenegge
gegangen: "Komm, mach schnell, muß weg!" Schnell sollte er
machen bei dem, was Hunde so alles machen müssen: an Ecken
riechen, Böschungen auf Mäuse inspizieren, pinkeln. Und als
ich dann hastig nach Hause zurückkam, lag da ein Zettel:
HANNOVER GEHT HEUTE NICHT! ANDER MAL!
Den Telefonanruf hatte meine Frau angenommen, während
ich mit dem Hund unterwegs war. Er kam von der Frau Krämer.
Sie war es auch gewesen, die gefragt hatte, ob ich nicht mit
nach Hannover fahren wolle, die Julia besuchen.
Julia -? Die kennt mich nicht, ich kenn sie nicht. Oder kaum.
Was sollen sich Typen besuchen, die sich kaum kennen? Gibt
nur verlegenes Schweigen, wenigstens unter Menschen. Tiere
sind da klüger, z.B. Hunde: fangen an zu schnuppern - laufen
danach weg oder lecken oder springen auf den Schoß. Oder
beißen.
Das ging mir so durch den Kopf, als die Frau Krämer am
Telefon fragte. So meine Gefühlslage. Und dann schoß's durchs
Gehirn, daß ich die Julia eigentlich doch ganz gut kenne. So'n
bißchen gut wenigstens.
Einmal ist es ein schöner Name - find ich wenigstens. Einer
der schönsten Mädchen-, Frauennamen. Mein Vorurteil, litera-
risches: Romeo und Julia. Eine der schönsten Mädchengestal-
ten der Literatur, die je geschaffen worden ist! Is' so. Julia:
literarischer Typ, der was mit Kindheit, Jugend, Liebe, Erwach-
senwerden, Leben zu tun hat.
Gut, prima. Beim Namen Julia sieht man hin! Alles literari-
sche Vorurteile -. Man kennt ja Julia, seit langem, und sieht bei
tatsächlichen Julias hin, ob sie dem entsprechen, was man sich
unter 'Julia' vorgestellt hat.
Meistens schlimme Enttäuschung -. Frauen wird es wahr-
scheinlich genauso gehen, wenn sie auf einen 'Alexander'(den
Großen) treffen, der ein bißchen arg mickrig geraten ist. Oder
einen Liebhaber-Namenstyp (wobei mir im Moment kein litera-
rischer einfällt. Höchstens der Tom (Sawyer), der später ei-
gentlich ein brauchbarer hätte geworden sein können. Oder der
Clark, Gable, der alte, aus dem Film, als Red Butler in VOM
WINDE VERWEHT).
Meistens ganz schlimme Enttäuschung - bei Dir aber nicht.
Als ich Dich zum ersten Mal sah, hab ich gedacht: Mensch, die
paßt! Endlich mal 'ne Typin, die zu 'Julia' paßt!
Echt wahr. Am Nachmittag im letzten Dezember, bei der li-
terarischen Preisverleihung in der Jugendkunstschule.
Und dann hörte ich noch zu, wie der Bonnemeier-Typ mit
dem andren Bonnemeier-Typ sprach, der Cousine: Sie mache
sich wieder klein - "ach, ich kleineskleines braves Kind". - Echt
gut: ironisch, spöttisch, mit Humor. Und lieb! Mit Kopf! Rich-
tig schön souverain -.
Wenn man selbst so'n komisches Hirn hat, achtet man bei
anderen auf solche Sätze.
Doch irgendwie hattest Du auch vorher schon Eindruck auf
mich gemacht - literarischen. Als ich noch gar nicht wußte, daß
sich hinterm Text 'ne Julia verbarg. Bekannt war nur '13 Jahre'
- doch daß es ein She-Typ war, wurde aus den Wörtern klar.
Ich meine Dein Froschgedicht. Hat mir richtig gut gefallen.
Ich fand diesen Text - und den der Kleinen vom Kinderarzt, den
mit den Mathe-Monstern - am besten. Meiner Ansicht nach
waren das die reifsten Texte: weil sie von den eigenen Gefüh-
len handelten. So was heißt für mich wirkliches Schreiben: sich
schreibend zu bewegen in der Welt eigener Gefühle, die ja oft
sehr verwirrend, bedrückend sein können. - Die anderen Texte
waren fast alle angelesenes Zeugs: Leben aus zweiter Hand.
Nicht schlecht, nicht gut - nur wenig.
Leider bin ich mit meinem persönlichen Urteil bei der Jury
nicht durchgedrungen. Na ja.
Du weißt immer noch nicht, wer ich bin? Prima. - Doch
Dein Text hatte mir gefallen, besonders die ironische Volte
zum Schluß: das Neben-sich-Treten, Sich-selbst-Zusehen. In
den eigenen Gefühlen. Das hatte Witz, Souverainität.
Gut, also. Also: Weil Du schon all die lange Zeit dollen
Eindruck auf mich gemacht hattest, deshalb habe ich gleich
zugesagt, als die Frau Krämer mich am Telefon fragte. Weißt
Du jetzt, wer ich bin? Befehl zum Computer: ^KR HE: Dieter
Pflanz (HE steht für 'head', Überschrift /Absender).
Will man Dich mal besuchen - und dann darf man nicht! Ir-
gendwie frustrierend. AUF DER BULT scheint ein richtiges
Dornröschenschloß zu sein.
Also, Prinzessin - Julia in den Dornen! She-Souverain, She-
Spötter. Fühl Dich da gut in den Dornen, genieß die Zeit jen-
seits von Schule und anderen festgenagelten Rahmen! Kinder
rahmen...Mädchenrahmen...Bilderrahmen...
Wenn ich mich richtig erinnere, war das in dem Alter da-
mals wichtig, sich ab und zu mal in Dornenhecken zu verschan-
zen.
Und sei nicht zu streng mit Dir selbst, Souverain! Sich selbst
muß man oder frau irgendwie immer ein bißchen lieb haben -.
Natürlich mit Lächeln: mit etwas Spott, Ironie, viel Humor. -
Das gehört wohl zu den guten Kochrezepten des gar nicht so
schrecklichen Großwerdens. Julia in den Dornen!

Herzliche Grüße
Dein
Dieter Pflanz





Auf dem Briefumschlag, Absender: Dornröschen, Schloß 'In den Dornen'


25. Oktober Lieber Herr Pflanz!
Als ich Ihren Brief erhielt, war ich natürlich zuerst recht ver-
dutzt, wollte mir aber nicht die Spannung verderben, indem ich
auf den letzten Teil des Briefes nach dem Absender geschaut
hätte. Aber je mehr ich las, desto höher stieg meine Spannung. -
Endlich 'mal jemand, der nicht so'n blöden, langweiligen Kram
schreibt - wie Hallo, wie geht's, ich hoffe, Dir ist schon viel
besser... -, sondern 'mal 'n anderes Thema anschneidet.
Als ich dann weiterlas und zum Wettbewerb kam, schlich
sich so eine vage Vermutung in meinen Hinterkopf. Aber gu-
cken, ob's auch stimmte, nein, das wollte ich nicht. Auch
brachte mich der Brief etwas in Verlegenheit. Noch niemand
hat solche angenehm netten Sachen über mich an mich ge-
schrieben, kaum jemand gesagt. Und der/die jenige, der/die
mich zuerst kaum zu kennen glaubt(e), schreibt gleich so viel.
Und dann, nachdem ich den Namen des Absenders las (die
Vermutung von mir war richtig gewesen), war ich trotzdem
recht 'baff'. Warum? Weil, ich habe in letzter Zeit ziemlich oft
an Sie gedacht; warum, weiß ich nicht, ehrlich. Vielleicht war
das so'ne Art Telepartie (ich hoffe, es ist richtig geschrieben),
wer weiß?
Die Idee, mich in 'Dornröschens' Haut zu stecken, fand ich
ganz prima, auch gut überlegt. Verzaubert, von irgendeiner
Krankheit, liege ich hier im 'Dornröschenschloß' und warte, bis
ich erlöst werde. Erlöst, von wem? Von der Krankheit, vom
'Besuchsverbot' oder vom Leben? - Streichen wir das 'Erlöst'. -
Sagen wir lieber, bis die Dornen sich öffnen. - Nur das mit dem
Wachküssen ist nicht so toll. Da muß ich mich überraschen
lassen, wer der Märchenprinz ist. ..
Im Moment fühle ich mich aber auch noch gar nicht wie
Dornröschen, bestimmt erst, wenn ich mich richtig eingelebt
habe, bis die 'Spindel' aus meinem Finger gezogen ist. - Im
Moment bin ich eher Rapunzel im Turm. Keiner kann rein,
keiner raus. Nur durch meine Hilfe kann ich die böse Hexe
überwinden, indem ich einen guten Prinz an meinen Haaren zu
mir steigen lasse, damit er helfen kann. Der Prinz, das Leben,
das Gute, das Heilmittel hängt an meinen Haaren, dem 'seide-
nen Faden'. Schneidet die Hexe die Haare (Faden) ab, dann...
Bleiben wir beim Dornröschen. Gefällt mir besser, und da lei-
den meine Haare nicht dran!
Und nun 'mal zu Ihnen. Ich werde nun auch 'mal versuchen
zu äußern, welchen Eindruck Sie auf mich gemacht haben/
machen. Zum Kennenlernen ist das ganz nützlich, finde ich,
denn das trauen sich die meisten heute gar nicht, fürchten sich,
etwas falsch auszudrücken, Sie schrieben selbst: sind verlegen
usw. Gut. Ich bin kein Autor, denke nicht so intensiv über jeden
Satz nach, wie Sie (in diesem Brief denke ich gar nicht erst,
alles, was in mir ist, sprudelt aufs Papier, ungefiltert, unver-
fälscht, deshalb werde ich ja auch nicht noch einmal abschrei-
ben, was nun schon da steht, damit nichts verfälscht wird), aber
vielleicht ist das gerade gut, für Sie, in meinem Brief mehr über
mich kennenzulernen. Ich versuch's einfach 'mal: Dieter, der
Name sagt mir nicht viel ('nen Mädchen in meiner Klasse heißt
so!), ich kann mir nicht viel darunter vorstellen. Der Name,
fand und finde ich, erscheint, im Gegensatz zu einem Alexan-
der (aus Ihrem Beispiel), der mit allem Pomp auf dem Blatt
Papier der Mittelpunkt zu sein wünscht (so als Schwerpunkt des
Satzes), eher zurückhaltend, im Hintergrund bleiben wollend,
nicht mit auffälligen Verzierungen usw. Als ich Sie dann sah,
paßte das auch. Ich finde, Auffälliges das haben Sie nicht an
Ihrem Äußeren, im Gegenteil. Nachdem ich Sie das erste Mal
gesehen hatte, konnte ich mich, nach ein paar Tagen, kaum
noch erinnern, wie Sie aussahen, weil es nichts 'Außergewöhn-
liches' gab. Keine Warze, keine unnormale Kleidung usw. Aber
man hat gleich gemerkt, daß Sie viel nachdenken. Vielleicht
gelingt es Ihnen deswegen so gut, über Leute so genau und
natürlich zu schreiben, weil keiner merkt, daß Sie auf jeden
Satz, jede Geste achten, Sie die Leute vielleicht kaum bemer-
ken. Das paßt noch genauer, denn alles, was ich bis jetzt von
Ihnen gelesen habe, ist frei, natürlich, genau beobachtet. Ob es
nun die Kraniche über der Weser, die Jungs beim Fischen (den
Namen der Geschichte weiß ich nicht mehr) oder Micha mit
seinen Problemen 'im Essen zu pantschen' ist. Das finde ich so
fesselnd an Ihren Geschichten, Büchern; und 'eigene Gefühle',
die merkt man doch auch deutlich. So, nun habe ich auch was
über Sie dazugelernt, Sie kennengelernt, und das haben Sie mir
beigebracht! Ohne viele Worte. Und viel Freude haben Sie mir
gemacht, mit dem ganzen Brief, der nettste übrigens, den ich
in dem ganzen Krankenhausaufenthalt bekommen hatte! So wie
Sie mich zum Dornröschen gemacht haben, will ich Sie nun
auch mit ins Märchen einbauen. Sie - ein Lehrmeister, ein Ma-
gier und Bote, der mir Mut macht durchzuhalten, mir klar-
macht, daß Märchen gut enden? Mut macht zu leben? - Haben
Sie nämlich! Ganz unbewußt. Mit der 'Dornröschenfantasie'
Mut und etwas Glück gebracht. Das braucht man auch, in die-
sen Dornen, denn Dornen stechen auch oft, tun weh. Da braucht
man auch Fantasie, Fantasie, um über die Dornen hinweg-
schauen zu können. Danke dafür! Ja! Sie sind die maskuline
Form der 'guten Fee', die aus dem ewigen einen Hundertjähri-
gen Schlaf gemacht hat, oder so...?!? Das könnte besser hin-
hauen. So kriegen wir noch die Personen zusammen!

So, fürs Erste, tschüß! Vielleicht schreibe ich noch 'mal.
Und achten Sie bitte nicht so auf die Fehler!


Ihre Julia PS: Als Mädchenname ist Dieta das genaue Gegenteil! Das
springt ins Auge, stimmt's? «

Julia Bonnemeier / Dieter Pflanz
DAS VERRÜCKTE FÜNFZEHNTE JAHR
(ISBN 3-8311-0621-5/ bei LIBRI)
24,80 DM/ 136 Seiten - NUR ÜBER BUCHHANDEL!