DAS VERRÜCKTE
FÜNFZEHNTE JAHR
montiert
in Briefen
Ein Schriftsteller erfährt, dass die Julia aus dem
Kinder-Literaturclub
mit Magersucht im Krankenhaus liegt, schreibt ihr einen Brief:
lustig, etwas spöttisch, ironisch. Und das Mädchen antwortet
in gleicher Art.
Sie schreiben sich Briefe, sprechen über Leben, schwieriges Jungsein,
Liebe, Bekannte, Krankheiten, Freunde, Tiere, die Schule. Zu
Julias 15. Geburtstag montiert er als Geschenk all die ausgetauschten
Briefe im Computer zu einem Buch. Um ihr zu helfen, sich klar zu werden,
was im vergangenen Jahr in ihrem jungen Leben alles abgelaufen ist.
Eine wahre Geschichte aus Briefen wie sie so tatsächlich über Monate
entstanden ist durch:
Julia Bonnemeier / Dieter Pflanz
****
Auszug:
Die ersten beiden Briefe:
DAS VERRÜCKTE FÜNFZEHNTE JAHR
montiert
in Briefen
Sorgfältig abgeschrieben und überreicht
an Julia
als Geburtstagsgeschenk zum Fünfzehnten
von
Dieter Pflanz
»Ohne Namen - kein Absender
Fräulein
Julia Bonnemeier
KINDERKLINIK AUF DER BULT/ Station 16
Janusz-Korczak-Allee 12
30173 Hannover
22. Oktober
Liebe Julia,
wenn Du mich auch nicht mehr kennst, hätte ich Dich doch
letzten Montag fast besucht. Hatte mich schon von meinem
Hund verabschiedet, der sonst gewöhnt ist, nachmittags lange
ausgeführt zu werden - war mit ihm nur kurz auf die Ödenegge
gegangen: "Komm, mach schnell, muß weg!" Schnell sollte er
machen bei dem, was Hunde so alles machen müssen: an Ecken
riechen, Böschungen auf Mäuse inspizieren, pinkeln. Und als
ich dann hastig nach Hause zurückkam, lag da ein Zettel:
HANNOVER GEHT HEUTE NICHT! ANDER MAL!
Den Telefonanruf hatte meine Frau angenommen, während
ich mit dem Hund unterwegs war. Er kam von der Frau Krämer.
Sie war es auch gewesen, die gefragt hatte, ob ich nicht mit
nach Hannover fahren wolle, die Julia besuchen.
Julia -? Die kennt mich nicht, ich kenn sie nicht. Oder kaum.
Was sollen sich Typen besuchen, die sich kaum kennen? Gibt
nur verlegenes Schweigen, wenigstens unter Menschen. Tiere
sind da klüger, z.B. Hunde: fangen an zu schnuppern - laufen
danach weg oder lecken oder springen auf den Schoß. Oder
beißen.
Das ging mir so durch den Kopf, als die Frau Krämer am
Telefon fragte. So meine Gefühlslage. Und dann schoß's durchs
Gehirn, daß ich die Julia eigentlich doch ganz gut kenne. So'n
bißchen gut wenigstens.
Einmal ist es ein schöner Name - find ich wenigstens. Einer
der schönsten Mädchen-, Frauennamen. Mein Vorurteil, litera-
risches: Romeo und Julia. Eine der schönsten Mädchengestal-
ten der Literatur, die je geschaffen worden ist! Is' so. Julia:
literarischer Typ, der was mit Kindheit, Jugend, Liebe, Erwach-
senwerden, Leben zu tun hat.
Gut, prima. Beim Namen Julia sieht man hin! Alles literari-
sche Vorurteile -. Man kennt ja Julia, seit langem, und sieht bei
tatsächlichen Julias hin, ob sie dem entsprechen, was man sich
unter 'Julia' vorgestellt hat.
Meistens schlimme Enttäuschung -. Frauen wird es wahr-
scheinlich genauso gehen, wenn sie auf einen 'Alexander'(den
Großen) treffen, der ein bißchen arg mickrig geraten ist. Oder
einen Liebhaber-Namenstyp (wobei mir im Moment kein litera-
rischer einfällt. Höchstens der Tom (Sawyer), der später ei-
gentlich ein brauchbarer hätte geworden sein können. Oder der
Clark, Gable, der alte, aus dem Film, als Red Butler in VOM
WINDE VERWEHT).
Meistens ganz schlimme Enttäuschung - bei Dir aber nicht.
Als ich Dich zum ersten Mal sah, hab ich gedacht: Mensch, die
paßt! Endlich mal 'ne Typin, die zu 'Julia' paßt!
Echt wahr. Am Nachmittag im letzten Dezember, bei der li-
terarischen Preisverleihung in der Jugendkunstschule.
Und dann hörte ich noch zu, wie der Bonnemeier-Typ mit
dem andren Bonnemeier-Typ sprach, der Cousine: Sie mache
sich wieder klein - "ach, ich kleineskleines braves Kind". - Echt
gut: ironisch, spöttisch, mit Humor. Und lieb! Mit Kopf! Rich-
tig schön souverain -.
Wenn man selbst so'n komisches Hirn hat, achtet man bei
anderen auf solche Sätze.
Doch irgendwie hattest Du auch vorher schon Eindruck auf
mich gemacht - literarischen. Als ich noch gar nicht wußte, daß
sich hinterm Text 'ne Julia verbarg. Bekannt war nur '13 Jahre'
- doch daß es ein She-Typ war, wurde aus den Wörtern klar.
Ich meine Dein Froschgedicht. Hat mir richtig gut gefallen.
Ich fand diesen Text - und den der Kleinen vom Kinderarzt, den
mit den Mathe-Monstern - am besten. Meiner Ansicht nach
waren das die reifsten Texte: weil sie von den eigenen Gefüh-
len handelten. So was heißt für mich wirkliches Schreiben: sich
schreibend zu bewegen in der Welt eigener Gefühle, die ja oft
sehr verwirrend, bedrückend sein können. - Die anderen Texte
waren fast alle angelesenes Zeugs: Leben aus zweiter Hand.
Nicht schlecht, nicht gut - nur wenig.
Leider bin ich mit meinem persönlichen Urteil bei der Jury
nicht durchgedrungen. Na ja.
Du weißt immer noch nicht, wer ich bin? Prima. - Doch
Dein Text hatte mir gefallen, besonders die ironische Volte
zum Schluß: das Neben-sich-Treten, Sich-selbst-Zusehen. In
den eigenen Gefühlen. Das hatte Witz, Souverainität.
Gut, also. Also: Weil Du schon all die lange Zeit dollen
Eindruck auf mich gemacht hattest, deshalb habe ich gleich
zugesagt, als die Frau Krämer mich am Telefon fragte. Weißt
Du jetzt, wer ich bin? Befehl zum Computer: ^KR HE: Dieter
Pflanz (HE steht für 'head', Überschrift /Absender).
Will man Dich mal besuchen - und dann darf man nicht! Ir-
gendwie frustrierend. AUF DER BULT scheint ein richtiges
Dornröschenschloß zu sein.
Also, Prinzessin - Julia in den Dornen! She-Souverain, She-
Spötter. Fühl Dich da gut in den Dornen, genieß die Zeit jen-
seits von Schule und anderen festgenagelten Rahmen! Kinder
rahmen...Mädchenrahmen...Bilderrahmen...
Wenn ich mich richtig erinnere, war das in dem Alter da-
mals wichtig, sich ab und zu mal in Dornenhecken zu verschan-
zen.
Und sei nicht zu streng mit Dir selbst, Souverain! Sich selbst
muß man oder frau irgendwie immer ein bißchen lieb haben -.
Natürlich mit Lächeln: mit etwas Spott, Ironie, viel Humor. -
Das gehört wohl zu den guten Kochrezepten des gar nicht so
schrecklichen Großwerdens. Julia in den Dornen!
Herzliche Grüße
Dein
Dieter Pflanz
Auf dem Briefumschlag, Absender: Dornröschen, Schloß 'In den Dornen'
25. Oktober
Lieber Herr Pflanz!
Als ich Ihren Brief erhielt, war ich natürlich zuerst recht ver-
dutzt, wollte mir aber nicht die Spannung verderben, indem ich
auf den letzten Teil des Briefes nach dem Absender geschaut
hätte. Aber je mehr ich las, desto höher stieg meine Spannung. -
Endlich 'mal jemand, der nicht so'n blöden, langweiligen Kram
schreibt - wie Hallo, wie geht's, ich hoffe, Dir ist schon viel
besser... -, sondern 'mal 'n anderes Thema anschneidet.
Als ich dann weiterlas und zum Wettbewerb kam, schlich
sich so eine vage Vermutung in meinen Hinterkopf. Aber gu-
cken, ob's auch stimmte, nein, das wollte ich nicht. Auch
brachte mich der Brief etwas in Verlegenheit. Noch niemand
hat solche angenehm netten Sachen über mich an mich ge-
schrieben, kaum jemand gesagt. Und der/die jenige, der/die
mich zuerst kaum zu kennen glaubt(e), schreibt gleich so viel.
Und dann, nachdem ich den Namen des Absenders las (die
Vermutung von mir war richtig gewesen), war ich trotzdem
recht 'baff'. Warum? Weil, ich habe in letzter Zeit ziemlich oft
an Sie gedacht; warum, weiß ich nicht, ehrlich. Vielleicht war
das so'ne Art Telepartie (ich hoffe, es ist richtig geschrieben),
wer weiß?
Die Idee, mich in 'Dornröschens' Haut zu stecken, fand ich
ganz prima, auch gut überlegt. Verzaubert, von irgendeiner
Krankheit, liege ich hier im 'Dornröschenschloß' und warte, bis
ich erlöst werde. Erlöst, von wem? Von der Krankheit, vom
'Besuchsverbot' oder vom Leben? - Streichen wir das 'Erlöst'. -
Sagen wir lieber, bis die Dornen sich öffnen. - Nur das mit dem
Wachküssen ist nicht so toll. Da muß ich mich überraschen
lassen, wer der Märchenprinz ist. ..
Im Moment fühle ich mich aber auch noch gar nicht wie
Dornröschen, bestimmt erst, wenn ich mich richtig eingelebt
habe, bis die 'Spindel' aus meinem Finger gezogen ist. - Im
Moment bin ich eher Rapunzel im Turm. Keiner kann rein,
keiner raus. Nur durch meine Hilfe kann ich die böse Hexe
überwinden, indem ich einen guten Prinz an meinen Haaren zu
mir steigen lasse, damit er helfen kann. Der Prinz, das Leben,
das Gute, das Heilmittel hängt an meinen Haaren, dem 'seide-
nen Faden'. Schneidet die Hexe die Haare (Faden) ab, dann...
Bleiben wir beim Dornröschen. Gefällt mir besser, und da lei-
den meine Haare nicht dran!
Und nun 'mal zu Ihnen. Ich werde nun auch 'mal versuchen
zu äußern, welchen Eindruck Sie auf mich gemacht haben/
machen. Zum Kennenlernen ist das ganz nützlich, finde ich,
denn das trauen sich die meisten heute gar nicht, fürchten sich,
etwas falsch auszudrücken, Sie schrieben selbst: sind verlegen
usw. Gut. Ich bin kein Autor, denke nicht so intensiv über jeden
Satz nach, wie Sie (in diesem Brief denke ich gar nicht erst,
alles, was in mir ist, sprudelt aufs Papier, ungefiltert, unver-
fälscht, deshalb werde ich ja auch nicht noch einmal abschrei-
ben, was nun schon da steht, damit nichts verfälscht wird), aber
vielleicht ist das gerade gut, für Sie, in meinem Brief mehr über
mich kennenzulernen. Ich versuch's einfach 'mal: Dieter, der
Name sagt mir nicht viel ('nen Mädchen in meiner Klasse heißt
so!), ich kann mir nicht viel darunter vorstellen. Der Name,
fand und finde ich, erscheint, im Gegensatz zu einem Alexan-
der (aus Ihrem Beispiel), der mit allem Pomp auf dem Blatt
Papier der Mittelpunkt zu sein wünscht (so als Schwerpunkt des
Satzes), eher zurückhaltend, im Hintergrund bleiben wollend,
nicht mit auffälligen Verzierungen usw. Als ich Sie dann sah,
paßte das auch. Ich finde, Auffälliges das haben Sie nicht an
Ihrem Äußeren, im Gegenteil. Nachdem ich Sie das erste Mal
gesehen hatte, konnte ich mich, nach ein paar Tagen, kaum
noch erinnern, wie Sie aussahen, weil es nichts 'Außergewöhn-
liches' gab. Keine Warze, keine unnormale Kleidung usw. Aber
man hat gleich gemerkt, daß Sie viel nachdenken. Vielleicht
gelingt es Ihnen deswegen so gut, über Leute so genau und
natürlich zu schreiben, weil keiner merkt, daß Sie auf jeden
Satz, jede Geste achten, Sie die Leute vielleicht kaum bemer-
ken. Das paßt noch genauer, denn alles, was ich bis jetzt von
Ihnen gelesen habe, ist frei, natürlich, genau beobachtet. Ob es
nun die Kraniche über der Weser, die Jungs beim Fischen (den
Namen der Geschichte weiß ich nicht mehr) oder Micha mit
seinen Problemen 'im Essen zu pantschen' ist. Das finde ich so
fesselnd an Ihren Geschichten, Büchern; und 'eigene Gefühle',
die merkt man doch auch deutlich. So, nun habe ich auch was
über Sie dazugelernt, Sie kennengelernt, und das haben Sie mir
beigebracht! Ohne viele Worte. Und viel Freude haben Sie mir
gemacht, mit dem ganzen Brief, der nettste übrigens, den ich
in dem ganzen Krankenhausaufenthalt bekommen hatte! So wie
Sie mich zum Dornröschen gemacht haben, will ich Sie nun
auch mit ins Märchen einbauen. Sie - ein Lehrmeister, ein Ma-
gier und Bote, der mir Mut macht durchzuhalten, mir klar-
macht, daß Märchen gut enden? Mut macht zu leben? - Haben
Sie nämlich! Ganz unbewußt. Mit der 'Dornröschenfantasie'
Mut und etwas Glück gebracht. Das braucht man auch, in die-
sen Dornen, denn Dornen stechen auch oft, tun weh. Da braucht
man auch Fantasie, Fantasie, um über die Dornen hinweg-
schauen zu können. Danke dafür! Ja! Sie sind die maskuline
Form der 'guten Fee', die aus dem ewigen einen Hundertjähri-
gen Schlaf gemacht hat, oder so...?!? Das könnte besser hin-
hauen. So kriegen wir noch die Personen zusammen!
So, fürs Erste, tschüß! Vielleicht schreibe ich noch 'mal.
Und achten Sie bitte nicht so auf die Fehler!
Ihre Julia
PS: Als Mädchenname ist Dieta das genaue Gegenteil! Das
springt ins Auge, stimmt's? «
Julia Bonnemeier / Dieter Pflanz
DAS VERRÜCKTE FÜNFZEHNTE JAHR
(ISBN 3-8311-0621-5/ bei LIBRI)
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